Die katholische Kirche sorgte in den letzten Jahren immer wieder für Negativschlagzeilen. Der Grund: immer häufiger gelangten schreckliche Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit. Welche Haltung hat Diakon Matthias Westermann zur aktuellen Diskussion über sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch in der Kirche? Wir haben ihn gefragt.
An diversen Stellen wurde fälschlicherweise geschwiegen, um einen Skandal zu verhindern
Wie erfuhren Sie von Missbrauchsvorfällen in der Kirche?
Wie die meisten habe ich von all dem nur aus den Medien erfahren. Ich gebe zu, ich war erschüttert, weil ich mir das in diesem Umfang nicht hatte vorstellen können. Es gab ja mehrere Phasen, in denen diese schlimmen Geschehnisse ans Licht kamen und in die Öffentlichkeit gelangten. Das war kurz nach der Jahrtausendwende, vor allem mit den Berichten aus den USA. Und dann wieder im Jahr 2010, als sich Papst Benedikt XVI. in einem Brief an die irischen Bischöfe wandte. Er machte ihnen schwere Vorwürfe, gegen Täter nicht energisch genug vorgegangen zu sein und Vorfälle vertuscht zu haben. Zeitgleich wurde ja bei uns der Fall des Pfarrers von Schübelbach im Kanton Schwyz bekannt, der sich mehrfach an Kindern vergriffen hatte und dann zum Auslöser der öffentlichen Diskussion auch in unserem Bistum wurde.
Können Sie diesen Fall näher erläutern?
Ja, es ist ein “klassischer” Fall, wie er leider in der Vergangenheit viel zu oft vorgekommen ist. Es geht dabei um einen Ordensmann, der schon in den Internaten seiner Gemeinschaft im Ausland Übergriffe begangen hat. Dann wechselt er in eine Pfarrei des Bistums Basel. Dort gibt es wieder Vorfälle, die aber von allen verschwiegen werden. Seine nächste Pfarrei ist in unserem Bistum. In Schübelbach SZ, wo er wieder zuschlägt. Ans Licht kommt alles erst, als ein früheres Opfer in einem Zeitungsinterview den Missbrauch öffentlich macht. Irgendwie hegte man wohl bei allen Beteiligten die Hoffnung, dass sich durch Versetzungen und Ermahnungen alles regeln lasse. Hinzu kam, dass die jeweiligen Anstellungsbehörden nichts von den Vorwürfen wussten. Opfer wurden wohl über einen bestimmten Zeitraum auch bedrängt, so dass sie schwiegen.
Ist der Zölibat Schuld an den vielen Missbrauchsfällen?
Man hört ja oft den Vorwurf, dass der Zölibat und die kirchlichen Strukturen an all dem schuld sein sollen. Sind Sie auch dieser Meinung?
Sicher haben diese Vorfälle der priesterlichen Identität schweren Schaden zugefügt. Es ist ja, von den moralischen und strafrechtlichen Konsequenzen einmal abgesehen, letztendlich ein schwerer Verrat am Auftrag Jesu Christi, wenn Seelsorgende an einem anderen Menschen, gar an einem Kind, ein Verbrechen begehen. Ich halte es aber für absolut unzulässig, dafür allein dem Zölibat die Schuld zu geben. Für mich ist dies eine Diffamierung der vielen Kleriker und kirchlichen Mitarbeiter, die ihren Dienst unbescholten und engagiert ausüben. Sexuelle Gewalt ist ein bestürzendes Phänomen weltweit. Oder will wirklich jemand behaupten, dass die Fälle von Kindesmissbrauch zum Beispiel an der deutschen Odenwaldschule, in Sportvereinen, Kindertagesstätten oder sogar in Familien auch irgendetwas mit kirchlichen Machtstrukturen oder mit Klerikalismus zu tun haben? Die Mehrzahl der Täter lebt nicht zölibatär.
Muss man nicht dennoch auch von einem Versagen der Kirchenleitung sprechen?
Sicher kann man das so sagen. Da wurde auf der Ebene der Bischöfe und Personalverantwortlichen in der Vergangenheit weggeschaut, wo man besser hingeschaut hätte. Den guten Ruf der Kirche zu retten schien wichtiger, wie die Opfer ernst zu nehmen. Dabei müssen wir uns aber hüten, ungerecht zu werden. Wir dürfen nicht einfach jene, die heute Verantwortung tragen, für das bezahlen lassen, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist oder was man anders zu lösen versucht hatte. Manche der damals getroffenen Massnahmen stellten sich im Nachhinein als komplett unwirksam heraus. Aufgeheizte Stimmung und die momentane Hysterie sind übrigens keine guten Berater und führen erfahrungsgemäss auch nicht zu guten Lösungen. Das sage ich im Blick auf all jene, die diese schwierige Situation nun nutzen möchten, eine ganz neue Kirche zu konstruieren.
Es gilt eine absolute Nulltoleranz gegenüber solchen Geschehnissen
Wird denn Ihrer Ansicht heute genug getan, um solche Vorkommnisse in Zukunft zu vermeiden?
Nicht nur im deutschen Sprachraum ist in den letzten Jahren viel passiert, um das Geschehene aufzuarbeiten und Richtlinien durchzusetzen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Vieles an unseren kirchlichen Strukturen wird nun kritisch durchleuchtet und das ist auch gut so. In unserem Bistum gibt es ein Fachgremium und Ansprechpersonen. Alle Schweizer Bistümer gemeinsam haben einen sogenannten «Genugtuungsfonds» errichtet, wo Betroffene auch finanzielle Hilfe erfahren. In der Aus- und Fortbildung ist diese Thematik stark präsent. Als vertrauensbildende Massnahme mussten alle pfarreilichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kanton einen Strafregisterauszug vorlegen. Diejenigen, die in der Seelsorge tätig sind, zusätzlich auch einen Nachweis, dass sie kein Verbot haben, mit jungen Menschen zu arbeiten. Auch in unserem Team sprechen wir offen darüber, welche Grenzen unbedingt einzuhalten sind und wie wir auf Fehlverhalten aufmerksam machen können.
Wie ist Ihre persönliche Meinung?
Ich bin überzeugt, dass alle Massnahmen wenig nützen, wenn nicht jeder einzelne sich ernsthaft prüft und sich seiner Verantwortung bewusst wird. Integer zu leben und mit seiner Sexualität verantwortungsbewusst umzugehen, ist ja nicht nur eine Herausforderung für zölibatäre Priester, sondern eine Aufgabe und Verpflichtung für alle Menschen. Für alle in der Seelsorge Tätigen gilt, unbedingt die Grenzen einzuhalten und die Integrität des Gegenübers, ob Kind oder Erwachsener, absolut zu achten. Vielleicht hat der kirchliche Dienst und vor allem der Priesterberuf manchmal Menschen angezogen, die genau in diesem Bereich Mühe haben. Es ist nun Aufgabe der Ausbildung und Begleitung, da in Zukunft viel genauer hinzuschauen. Im Übrigen gilt, ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, ganz egal, wer es begangen hat.
Vielen Dank für die Klarheit Ihrer Antworten. Als Mutter und praktizierende Katholikin ist es für mich immer noch schwierig zu verstehen, wie es möglich ist, dass diese kriminellen Handlungen stattgefunden haben und verborgen wurden. Deshalb danke ich Ihnen für Ihre Klarheit, insbesondere im Hinblick auf die Jugendlichen, um das Vertrauen zurückzugewinnen.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Wir wollen wirklich alles dransetzen, dass unsere Kirche ein Schutzraum für Menschen ist, und nicht ein Tatort.
Danke für die klare Information! Ja, ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, egal, wer es verursacht hat und egal wer es vertuscht hat. Alle sind in der Verantwortung, dass solches nicht passiert.
Lieber Matthias
Alle Deine Komentare könnte ich unterschreiben, danke für Deine realen Antworten. lb. Gruss
Josy Lustenberger